Cover
Titel
Anna Seilerin. Stifterin des Inselspitals


Autor(en)
Bichsel, Therese
Erschienen
Basel 2020: Zytglogge Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
von
Stefan Hächler, Edition Zurlaubiana, Aarg. Kantonsbibliothek Aarau

Ende 2020 hätte eigentlich das Richtfest für das neue Hauptgebäude des Berner Inselspitals gefeiert werden sollen. Die herrschende Corona-Pandemie verhinderte jedoch – wie unzählige andere Anlässe – auch diese Veranstaltung. Nichtsdestotrotz will der grösste Spitalverbund der Schweiz, die Insel Gruppe AG, mit dem Gebäude ein deutliches Zeichen für die Zukunft setzen. Der richtungsweisende Bau stellt gemäss einer Pressemitteilung «das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten ins Zentrum».

Dies ist ganz im Sinn von Anna Seiler, die vor 666 Jahren den Grundstein für dieses Gesundheitsimperium legte. Sie bestimmte 1354 in ihrem Testament, dass ihr Vermögen für den Betrieb des von ihr gegründeten Spitals eingesetzt werden soll.

In der kurz darauf erstellten Stiftungsurkunde – dem Gründungsdokument des Inselspitals – wird festgehalten, dass das Spital «stets und ewig» Bestand haben soll.

Wer aber war Anna Seiler? In den Quellen hat sie nur wenige Spuren hinterlassen. Therese Bichsel zählt diese im Vorwort ihres hier zu besprechenden Romans auf gerade mal zehn Zeilen auf.

Ist es ein Vorteil für eine Autorin historischer Romane, wenn über ihre Hauptfigur nur wenig bekannt ist? In gewisser Hinsicht wohl schon. Im vorliegenden Fall kann Therese Bichsel, die stets auf Authentizität ihrer Werke bedacht ist, die Biografie der Protagonistin freier mit dem historisch verbrieften Weltenlauf verknüpfen, kann plausible Episoden erfinden, die dem Leser Einblicke in das Bern des 14. Jahrhunderts gewähren, kann Begegnungen inszenieren, die das Funktionieren einer städtischen Gesellschaft im Mittelalter verdeutlichen. Genau das unterscheidet einen Roman von einer historischen Abhandlung.

In chronologisch unterschiedlich grossen Sprüngen breitet der Roman Annas Leben vom zehnjährigen Mädchen bis zur sterbenden 46-jährigen Witwe aus. Anna wächst als Halbwaise und Tochter des wohlhabenden Händlers Peter ab Berg weitgehend behütet in der Stadt Bern auf. Ihr Vater lässt sie – ganz ungewöhnlich damals – im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten und gewährt ihr gar wiederholt Einblick in sein Berufsleben.

Mit 16 Jahren wird sie mit dem wesentlich älteren Händler Heinrich Seiler verheiratet, dem damals reichsten Berner. Dennoch ist ihr kein glückliches Leben beschieden. Materiell zeitlebens ohne Sorge, leidet sie – trotz des Respekts, den die Eheleute einander zollen – unter den Zwängen des Standes und vor allem des Geschlechts. Zudem ist der Tod ihr ständiger Begleiter, der mit der Zeit fast alle ihre Liebsten dahinrafft. Ihr Glaube gibt ihr zwar einen gewissen Halt, aber die vielen Todesfälle, gepaart mit den Ungerechtigkeiten, dem Elend und der Not, die sie um sich herum wahrnimmt, stürzen sie wiederholt in Sinnkrisen.

Am schlimmsten trifft sie der Tod ihres Ehemanns. Mit 24 wird sie zur reichsten Witwe Berns. Erfolgreich kann sie sich gegen eine Bevormundung, eine weitere Heirat oder den Eintritt in ein Kloster wehren. Sie wird zu ihrer eigenen Herrin. Aber was soll sie mit ihrer gewonnenen Freiheit anfangen? Mehrere Ereignisse weisen ihr den Weg.

Bereits als junge Frau lernt sie das aufopfernde Wirken der Pflegerinnen des Niederen Spitals kennen. Deren Einsatz für die Bedürftigsten beeindruckt sie tief. Als kurz nach dem Tod ihres Mannes Hunderte Verwundete aus dem Laupenkrieg in die Stadt strömen, reisst dies Anna aus ihrer Lethargie. Sie erkennt in der Pflege der Kriegsopfer ihre Berufung und richtet in ihrem Haus eine Pflegestation ein. Auch beim grössten Desaster ihrer Zeit, der Pest von 1348 / 49, lässt sie in ihrem Haus zahlreiche Kranke pflegen.

In den nächsten Jahren reift in ihr der Plan, eine dauerhafte Institution zur Pflege Kranker zu schaffen. 1354 endlich ist es so weit: Anna hat sich das Recht erkämpft, über ihr grosses Vermögen selbstständig verfügen zu können. In ihrem Testament bestimmt sie, dass ihre beiden städtischen Häuser in ein Spital umgewandelt werden sollen. Um diesem Spital eine langfristige Perspektive zu geben, lässt sie eine Stiftungsurkunde aufsetzen, die es juristisch, organisatorisch und finanziell auf ein äusserst solides Fundament stellen. Damit ist ihr Lebenswerk vollbracht.

Das «Sittenbild», das Bichsel von Bern im 14. Jahrhundert zeichnet, mag historisch gesichert sein. Religiosität und Gottesfürchtigkeit, Herrschaft und Unterwerfung, Macht und Ohnmacht, Handel und Gewerbe, Elend und Krankheit, Krieg und Grausamkeit, all das kommt im Roman vor. Die undefinierte Erzählperspektive aber – eine nicht in Erscheinung tretende allwissende Erzählerin berichtet die Ereignisse aus einem vogelschauartigen Blickwinkel – verhindert, dass dem Leser das Gefühl gegeben wird, mitten im Geschehen zu stehen.

Was man also in diesem Roman vermissen mag, nämlich buchstäblich in die Geschichte hineingesogen zu werden, ist kein Unvermögen der Autorin, sondern Ausdruck ihrer Ehrlichkeit dem Publikum gegenüber. Zu weit entfernt ist die Zeit des 14. Jahrhunderts, als dass wir heutigen Menschen uns wirklich in eine Person jener Zeit versetzen könnten. Unserer Zeitgebundenheit können wir schlicht nicht entfliehen. Mentale Zeitreisen bleiben deshalb immer eine Illusion. Geschichte kann nur rekonstruiert und im besten Fall in gewissen Aspekten begreifbar gemacht, niemals aber wiedererlebt werden. Auch wenn der Zufall es will, dass Bichsels Buch, das unter anderem von der grössten Pandemie des 2. Jahrtausends berichtet, just mitten in der ersten Pandemie des 3. Jahrtausends erschienen ist.

Was bleibt? Das Bild einer aussergewöhnlichen Frau, die ihrer Zeit in verschiedenen Bereichen weit voraus und gleichwohl in ihr gefangen war. Und deren Wirken eine sagenhafte Erfolgsgeschichte begründete: Begann das «Seilerin-Spital» 1354 mit 13 Betten, so kann man angesichts einer Zahl von heute jährlich 860 000 gepflegten Patientinnen und Patienten1 in der Insel-Gruppe zweifellos von der folgen- und erfolgreichsten Stiftung aus dem mittelalterlichen Bern sprechen. Anna Seiler sei Dank …

1 http://www.inselgruppe.ch/de/die-insel-gruppe, abgefragt am 26.12.2020.

Zitierweise:
Stefan Hächler: Rezension zu: Bichsel, Therese: Anna Seilerin. Stifterin des Inselspitals. Basel: Zytglogge 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 50-52.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 50-52.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Thema
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit